Hildegard kommt auf den Rupertsberg

Nun fordert die Magistra etwas Unerhörtes: mit ihren Nonnen ein eigenes Kloster gründen zu dürfen, nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil Gott es ihr in einer Vision befohlen hat.

Der Abt, als er schließlich mit der Vision konfrontiert wird, sagt erst einmal “nein”.

Aber Hildegard ist auf ihrem Krankenlager nicht untätig, sondern setzt alle Hebel in Bewegung, um ihr Ziel zu erreichen.

Dem Mainzer Erzbischof Heinrich, der ohnehin zu Hildegards Förderern zählt, gelingt es schließlich bei seinen wichtigsten Geistlichen die Hindernisse und Einwände zu beseitigen.

Der Abt vom Disibodenberg erhält aus Mainz die Aufforderung, Hildegard mit ihren Nonnen ziehen zu lassen.

Von Stund an ist die Prophetin wieder gesund und organisiert mit unermüdlichem Elan die Finanzierung und den Aufbau ihres zukünftigen Klosters.

Sie tut es über keine allzu große Entfernung hinweg – nur eine Tagesreise zu Fuß. Aber zwischen der Klause auf dem Disibodenberg und dem neuen Domizil liegen Welten.

Der Ort ihres zukünftigen Wirkens, den Hildegard in einer Vision erfährt, ist der Schlüssel für einen weiteren Wendepunkt in ihrem Leben.

Der Magistra wird durch den Heiligen Geist eine Stätte gezeigt, wo die Nahe in den Rhein mündet, ein Hügel nämlich, der von alters her dem heiligen Bekenner Rupert namentlich zugewiesen ist.

Der Rupertsberg am linken Nahe-Ufer direkt über der Stadt Bingen, die am Zusammenfluss von Rhein und Nahe gelegen ist, soll ihr neuer Lebensmittelpunkt sein.

Bingen ist der städtische Knotenpunkt am Mittelrhein, wo sich in einer uralten Kultur- und Siedlungslandschaft die Verkehrswege von

· Nord nach Süd,

· von Ost nach West kreuzen.

Die Prophetin zieht es

· vom Rand in den Mittelpunkt,

· vom weniger beachteten Abseits ins Zentrum, wo ihr öffentliche Aufmerksamkeit und vielfältige Kommunikationsmittel sicher sind.


Ein Kloster vor den Toren der Stadt ist für eine mittelalterliche Stadt sowohl aus religiösen, aber auch aus sozialen und gesellschaftlichen Gründen vielversprechend.

Durch besondere Leistungen, z.B. Schenkungen, können sich die Menschen den Gebetsdienst der Klosterinsassen erwerben und ihren Namen in die liturgischen Gedenkbücher eintragen lassen.

Dass das Kloster Rupertsberg in der Folgezeit eine Versorgungsfunktion für das Binger Land übernimmt, zeigt sich in den nicht seltenen inneren Krisen dieses Klosters.

Aus den Anfängen auf dem Rupertsberg, vermerkt Hildegard:

,,Sturmwolken zogen über das Kloster hin und bedeckten die Sonne. Trübsale brachen über mich herein. Ich vergoss bittere Tränen. Manche Schwestern“, so klagt sie weiter, ,,sahen mich böse an, verlästerten mich hinter meinem Rücken und sagten, sie könnten den unausstehlichen Druck der Zucht ihrer Klosterregel nicht ertragen.“

Hildegard will kein frommes Stift adeliger Damen, sie will ein Benediktinerinnenkloster.

,, Die früheren Zustände“, so schreibt sie, ,,dulde ich um keinen Preis mehr. Es ist notwendig, dass die Irrenden den Weg der Besserung betreten. Gott will nicht, dass sie verlorengehen. Und ihr, meine Töchter, wendet euch zu mir, ehe ich mit denen abrechne, die mein Gewand zerrissen, mich auf den Tod betrübten und mir den Schwur der Treue brachen.“


Wir kennen nicht den genauen Zeitpunkt, als Hildegard – wie mit einem Paukenschlag – ihrem Leben eine entscheidende Wende gab.

Auf jeden Fall spätestens im Frühjahr 1148, wissen die führenden Männer auf dem Disibodenberg, dass in ihren Mauern eine anerkannte Prophetin zu Hause ist.

Hildegard hat große Pläne. Sie erkennt rechtzeitig, dass die Gemeinschaft der Klausnerinnen auf dem Disibodenberg zu groß geworden und die Gründung eines eigenen Klosters notwendig ist.

Sie wird krank und von großen Schmerzen befallen und ihre Mitschwestern können sie selbst mit aller Kraft nicht aus dem Bett heben.

Mobilität ist in der Lebensplanung einer Benediktinernonne – wie eines Mönchs – ein Tabu.

Lebenslanges Verweilen am gleichen Ort gehört zu einem ihrer drei ewigen Gelübde, nämlich nie mehr das Kloster zu verlassen, in das sie eingetreten ist.

Dieses Versprechen hat zweifellos Hildegard und ihre Nonnen gebunden.

„Scivias“, das signalisiert der Rupertsberg bei Bingen, sollte keine Ausnahme, sondern der Beginn ihrer Karriere als schreibende Visionärin sein.

Mühevoll ziehen sich die Bauarbeiten hin, denn zur damaligen Zeit ist der Bau einer Anlage, deren Ruinen noch im neunzehnten Jahrhundert beeindruckend wirken, sicherlich kein Kinderspiel.

Auch wenn befreundete und verwandte Adelsfamilien Geld spenden und die Arbeitskraft ihrer Leibeigenen zur Verfügung stellen.

Der Umzug der Schwestern wird wohl um 1150 stattgefunden haben, denn es ist verbürgt, da die Niederschrift der Scivias-Schau 1151 schon auf dem Rupertsberg erfolgt.

Mönch Volmar erhält die Genehmigung den Nonnen als Seelsorger auf den Rupertsberg zu folgen und er bleibt Hildegards getreuer Sekretär, der ihr bis zu seinem Tode diskret und treu zur Seite steht.

Auf dem Rupertsberg ist der äußere Rahmen zunächst sicherlich dürftig und wohl mehr als schlicht, nachdem die achtzehn bis zwanzig Nonnen vom Disibodenberg auf den Rupertsberg übergesiedelt waren.

Wirtschaftliche Not mag die ersten Monate oder Jahre bestimmt haben, bis durch Schenkungen der Status des Hauses gesichert, eine geordnete Lebensgrundlage geschaffen war und bis schließlich auch die Übertragung aller Rechte und Besitzungen, die das Frauenkloster auf dem Disibodenberg gehabt hatte, geregelt ist.


Nicht zuletzt diese anfänglich notwendigen Einschränkungen dürften, verbunden mit den Unbequemlichkeiten der weitergehenden

Bauarbeiten, mit ein Grund gewesen sein für den Missmut und die Auflehnung mancher Schwestern.

Erst allmählich entstehen die Konventsbauten.

Bis 1155 dauert der Streit mit dem Disibodenberg wegen der Dotationen der Schwestern.

1158 regelt der Mainzer Erzbischof die Wahl der Äbtissin und den Besitzstand des neuen Klosters. Vorher konnte man kaum mit dem Bau der eigentlichen Abteikirche beginnen. Einstweilen wird die wieder hergerichtete Kapelle des heiligen Rupertus benutzt.

Zwischen 1158 und 1165 schließlich wird die Abteikirche gebaut.

Was berichten die Quellen über die Reaktion der Stadt Bingen und über diesen Anfang des Klosters Rupertsberg?

Im 2. Buch der Vita der heiligen Hildegard lesen wir:

,, Soviel Schmerz und Trauer aber Hildegard bei denen hinterließ, von welchen sie schied, soviel Freude und Jubel brachte sie mit sich in die Gegend, in welche sie sich begab. Es waren nämlich aus der Stadt Bingen und den benachbarten Landgütern viele Vornehme und von dem Volk eine nicht kleine Zahl, welche sie mit großer Feierlichkeit und unter heiligen Lobgesängen empfingen“.


In dieser Krise des Anfangs kehren einige Schwestern, die von der Disibodenberger Klause zum Rupertsberg gezogen waren, wieder zu ihren Verwandten zurück.

Nach Überwindung der Krise am Beginn der Gründung geht für viele Jahre ein großer Frieden aus, vom Kloster über dem Grab des heiligen Rupertus.

Wibert von Gembloux, nach Volmars Tod Hildegards Sekretär und Helfer, beschreibt sehr detailliert die Atmosphäre des Klosters vor den Toren der Stadt:

,, Schwestern und Meisterin sind ein Herz und eine Seele. Eifer im Dienste Gottes, Selbstzucht, Wachsamkeit, liebenswürdiger geselliger Verkehr, alles atmet Andacht, Heiligkeit und Frieden. An Sonntagen ruhen Webstuhl, Spindel und Feder. …Müßiggang wird nicht geduldet. Kein ungeziemendes Wort fällt. … Die Räume des Klosters zeugen von Einfachheit und Geschmack. Eine Röhrenleitung versorgt jeden Arbeitsraum mit frischem Wasser. Zahlreiche Gäste sprechen vor. …Fünfzig Schwestern finden Wohnung, Kleidung und ergiebig Versorgung. In Bescheidenheit und Würde waltet die Äbtissin. …“

Hildegard und ihrem Kloster auf dem Rupertsberg liegt die Welt zu Füßen.

Direkt gegenüber am Ufer der Nahe drängen sich die dicht gebauten Häuserzeilen hinter der Stadtmauer. Aus den Dächern ragen der Turm der Kirche von St. Martin und die Burg, wo der Erzbischof von Mainz, der Stadtherr, gar nicht so selten Hof hält.

In den Gassen und auf dem Markt von Bingen geht es lebhaft zu, denn die Stadt ist dank ihrer günstigen Lage am Kreuzungspunkt der alten Römerstraßen, die auch im Mittelalter als die wichtigsten Verkehrsadern das Rhein-Main-Nahe-Gebiet mit ganz Europa verbinden, ein wirtschaftlich florierendes urbanes Zentrum.


Die Magistra sieht die Schiffe auf dem Rhein, die Güter, vor allem Wein und Personen überregional befördern und sich hier flussabwärts ins gefürchtete Binger Loch zwängen.

Die hier vorbeiziehenden Menschen transportieren nicht nur materielle Güter. Ebenso wichtig waren die mündlichen wie schriftlichen Informationen und Ideen, die die Reisenden verbreiten

und weitergeben. Der Rupertsberg liegt auch mitten im politischen Kräftefeld.

Hier ist das Kerngebiet des deutschen Reichs mit zahlreichem königlichem Grundbesitz und mit Mainz, dessen Erzbischof der oberste deutsche Kirchenfürst und meistens auch Kanzler des Reichs ist.

Die königliche Pfalz in Ingelheim am Rhein, von Karl dem Großen erbaut, ist fast in Sichtweite, und die traditionsreichen Kathedralstädte Worms und Speyer beherbergen viele königliche Hoftage.

Mancher fürstliche Tross, ob König, oder Herzog, Abt oder Erzbischof, nimmt den Weg durch Bingen und vorbei am Rupertsberg.

Es liegt nahe, dass die dreiundfünfzigjährige Hildegard Bilanz zieht, als die mächtige Handschrift vom „Scivias“ vor ihr liegt.

Sie weiß, wie beispiellos ihr bisheriges Leben war — nicht nur in ihrer Zeit, sondern im Vergleich mit der rund tausendjährigen Geschichte des Christentums insgesamt:

Ihre Tätigkeit als Schriftstellerin eines umfassenden visionären Werkes ist unerhört für eine Frau; die Gründung eines eigenen Klosters ist ungewöhnlich für eine Nonne, die seit ihrem vierzehnten Lebensjahr fest in eine klösterliche Gemeinschaft eingebunden ist und dort gemäß der Regel bis zu ihrem Tod bleiben sollte.

Das Wagnis Neuland zu betreten, ist verwurzelt in Hildegards Mission als Visionärin und Verkünderin göttlicher Geheimnisse, die ihre gesamte Existenz und Persönlichkeit ausfüllt.

Auch ihrer Umgebung ist längst klar, dass die Magistra Hildegard alle traditionellen Maßstäbe sprengt.

Der Ruf und der Ruhm dieser Prophetin haben bei Hildegards Umzug in das Kloster bei Bingen den engen lokalen Bereich von Nahe, Mosel, Rhein und Main schon hinter sich gelassen.

Hildegard ist angekommen und es beginnen die Jahre, die ihren Ruf als Visionärin und Heilige begründen.